Depression ist eine Krankheit. Wie Rheuma, Herzschwäche oder Asthma ist sie ein Teil des menschlichen Lebens. Mythos ist dabei die Vorstellung, Depression sei ein Zustand, der mit Anstrengung des Erkrankten aus der Welt zu schaffen wäre. Und dass es diese Erkrankung eigentlich gar nicht gäbe. Hier wird aber aus dem Mythos schon ein Wunschdenken, die Depression möge mich doch verschonen. Uns verschonen. Auch uns als aktive Menschen, uns als Arbeitgeber, die Krankheitstage in Dienst- und Einsatzplänen unterbringen müssen, uns als Krankenkenkassen, die Behandlungskosten tragen müssen. Uns als Gemeinwesen, das die Depression ökonomisch mittragen muss. Alleine in den USA wirkt sich die Depression volkswirtschaftlich mit etwa 160 Mio USD/Jahr an Ausfall-, Behandlungs- und Medikamentenkosten aus.
Genaugenommen ist, wenn wir den Menschen als Ganzes betrachten, die Depression auch eine körperliche Erkrankung. Vom Grundverständnis der Erkrankungen leiden wir darunter, dass wir seit Descartes Materialismus Leib und Seele als von einander eigenständige Bereiche betrachten und dem folgend auch behandeln. Weil es diese bedeutsame Trennung seit dem Descartes Materialismus gibt, sind wir heute mit dem Leib-Seele-Problem konfrontiert, was es ohne die Trennung zwischen materiellem und seelischen nicht gäbe. Die Erfahrungen aus der Medizin, Psychologie, Verhaltensforschung, Physik, Biochemie, Biologie und Sozialwissenschaften erlauben uns nicht an dem Phänomen vorbei zu gehen, dass der Mensch nicht ins Körperliche und Seelische teilbar ist. Das Mentale kann sich nicht verändern, ohne dass sich das Physische verändert. Alle Versuche, nur die eine Seite des menschlichen Wesens zu betrachten und zu behandeln bleiben erfolgslos, weil der andere Teil des Wesens dabei nicht berücksichtigt, also krank bleiben wird. Bei Depression ist es zum Glück so, dass sie auch ohne Behandlung völlig verschwinden kann, der Patient wieder ganz der Alte ist. Schon seit den alten Griechen wusste man, dass eine Depression nach Monaten (halben Jahr) ausheilen kann. Solche Phasen kann es mehrmals im Leben geben.
Der Mensch erkrankt, wenn er an einer Erkrankung leidet. Auch ein Knochenbruch heilt von Mensch zu Mensch unterschiedlich schnell aus, weil die Resonanz des psycho-physischen Systems je nach Individualität mehr oder weniger die Heilung unterstützt oder verzögert. Um sich es leichter vorstellen zu können, ist das Immunsystem ein brauchbares Modell dafür, wie sich die köperlichen und psychischen Ereignisse innerhalb des Systems Mensch gegenseitig bedingen – oder anders gesagt, wie die Leistung des Abwehrsystems zu mehr oder weniger Belastbarkeit neigt. Viele Depressive bringen eine gewisse vererbte Bereitschaft mit auf die Welt, depressiv reagieren zu können. Wenn es in der Famile des Patienten schon mal Depressionen gegeben hat, dann kann man davon ausgehen, dass etwa zu 25% die Erkrankung bei dem individuellen Menschen erblich bedingt ist. Und in der Untersuchung und Aufarbeitung der Depression ist dabei von Bedeutung, nach den Ereignissen zu suchen, die diese schlummernde Bereitschaft zu Depression zu einer Erkrankung geweckt und entwickelt haben. Hierzu sind alle möglichen Ereignisse während der Biographie möglich, manchmal auch der normale Stress der Entwicklung innerhalb der verschiedenen Lebensphasen. So erleben wir Depressionen schon bei Kindern, bei Kleinkindern.
Über Depression kann und sollte man viel schreiben und reden dürfen, um diese Daseins-Erkrankung des Menschen verstehen und im Alltag der Klein- und Großgesellschaften berücksichtigen zu können – sich die gesellschaftliche Zeit für Depression einzuräumen. Dieser Gedanke kontrastiert geradezu mit dem Dauergeschrei nach Wachstum und Leistung. Solche Phänomene sind sowohl bei einzelnen Menschen wie auch in großen Gruppen wie Gesellschaften zu beobachten, wenn diese sich in einer Depression befinden und nicht wissen, wie sie da wieder rauskommen sollen. D. h. nicht nur das Wesen, das System Mensch kann sich in einer Depression befinden, sondern das Gesselschaftssystem auch. Hier nutzt es gar nichts, bestimmte Bereiche als ursächlich herauszupicken und zu „behandeln“, dafür andere zu vernachlässigen. Die Systeme und Subsysteme hängen eng zusammen und bedingen sich gegenseitig mit Wirkungen und Rückkopplungen. Ideologische Systemveränderungen bringen schon zwei mal nichts, weil sie nur Bedingungen der Macht aber keine Ursachen verändern.
Bestes Beispiel aus der jüngsten Zeit der Finanzkrise ist der Streit darum, was als systemrelevant zu betrachten und zu behandeln ist. Hier wird ganz deutlich, dass jede Entscheidung nicht einer Systemanalyse sondern den in Spezialistentum eingewickelten Lobbyisten folgte. Das bedeutet, in erster Linie sind die Lobbyisten systemrelevant. Sie geben den regierenden Takt vor und füllen die Löcher von Informations- und Kenntnismangel durch strategisch gezielte Information. Dass ist wiederum kein Wissen, sondern Propaganda. Nicht umsonst bekommt der Bürger immer mehr den Eindruck, dass keiner weiß, worum es eigentlich geht, und die, welche es wissen, das Wissenschaos zu eigenem Nutzen eines Profits vermehren und gebrauchen. Der Bürger hat aber ein feines Gespür für die Stimmigkeit oder Unstimmigkeit der verschiedenen Aussagen.
Das tragische Ende des depressiven Robert Enke zeigt, wie viel an Berichterstattung in den Medien auch zu solch einen komplizierten und meistens tabuisierten Thema möglich ist. Aus allen Blickwinkeln des Interesses wird diskutiert, geschrieben, recherchiert und gefilmt. Der Spannungsbogen dabei umfaßt die Dimensionen von Sensationslust, Betroffenheit, sich in Szene setzen bis hin zu ernsthaften Frage, was hat es alles eigentlich mit Depression an sich zu tun.
Im Fall von Robert Enke muss man auf eine andere Erkrankung hinweisen, die dessen Leidensschicksal erschwerte. Neben dem Bett seiner zweijährigen Tochter im Krankenhaus zu erwachen, während sie reanimiert wird, erlaubt die Annahme, dass Herr Enke neben seiner seit der Jugend bestehenden Depression spätestens seit diesem Erwachen zusätzlich an einer Posttraumatischen Belastungsstörung gelitten hat.
Den Tod der Tochter verschlafen (ZDF.de)
„…Nach den Schilderungen seines Vaters belastete der Tod der herzkranken Tochter Lara Robert Enke noch mehr als bislang zu erkennen war. Sie war 2006 im Alter von nur zwei Jahren gestorben. Dirk Enke schilderte die schrecklichen Stunden. „Nach der Gehör-Operation kam Robert vom Spiel, fuhr in die Klinik, schläft abends neben der Kleinen alleine ein. Am nächsten Morgen wird er von dem Gerüttel und Geschüttel der Krankenschwestern wach, die die Kleine wiederbeleben wollen. Er lag daneben“. Seinem Sohn sei als erstes durch den Kopf gegangen: „Ich habe das nicht mitgekriegt, ich bin daran schuld.“ Auch wenn das Krankenhauspersonal Robert Enke versichert habe, dass er den Tod nicht hätte verhindern können, habe er ganz lange gebraucht, um davon loszukommen. „Da kam nochmal ein Versagenserlebnis dazu“, meinte (Vater) Dirk Enke…“
Das Meer der Schuldgefühle hat sich um die umfassbaren Bilder eben dieses Erwachens vergrößert. Die bestimmt seitdem bestehenden flashbacks der Bilder von jenem Morgen haben die bestehende Depression ab dann ständig begleitet. Die Depression ist durch Schicksalschläge zu einem alles Lebendige auffressenden Gefängnis geworden.