Zu Zeiten Albrecht Dürers durfte die Melancholie noch Zeit haben, im antriebslosen Meer von grüblerischen Gedanken zu verharren und mit im Schoß gefalteten Händen darauf warten, bis die Depression vorbei geht. Der damaliger Lebenslauf gab noch Zeit dazu, das Ende der Melancholie, die alten Griechen nannten sie die Krankheit der schwarzen Galle, am Ende des dunklen Tunnels der Schwermütigkeit abzuwarten. Normalerweise sehe man Licht am Ende des Tunels. Wenn der Tunel lang, sehr lang ist, dann könnte das Licht hinter jeder Biegung kommen, der Depressive geht an unzähligen Biegungen vorbei, jedesmal enttäuscht, dass nicht das Ende mit dem Licht zu sehen war.
Die Zeitlosigkeit der schwermütigen Gedanken ist ebenso schwer zu ertragen, wie die Zeitlosigkeit des Munteren und der Ausgelassenheit, die um den Depressiven herum ihr farbenprächtiges Spiel treiben. Er sieht es nicht, es steht still und nur ängstliche Blitze schießen durch die Gedanken durch, er würde nie mehr dazu gehören, sich nie mehr freuen wie die anderen.
Reiß dich zusammen, denn jeder sieht das Licht am Ende des Tunels – regelmäßige Aufforderung des Selbst an sich selbst oder der wohlmeinenden Umgebung an den depressiven, antriebslosen Menschen. Es geht aber nicht. Sich zusammenreißen bedeutet, einen neuen Misserfolg zu organisieren, sich zu nächsten Biegung des Tunels quälen, obwohl es Mangels Kräfte noch nicht klappen klappen kann. Es geht schief, die Arme gehen nicht hoch, bleiben wie bei der Melancholie von Albrecht Dürer im Schoß bewegungslos liegen, der leere Blick in unbekannte Ferne verrät nicht, was sich an Gedankenwelt hinter den Stirn in dunklen Wolken stürmisch ängstlich über den seelischen Himmel verbreitet.
Es ist schwer sich das alles einzugestehen, während man depressiv ist und keiner scheint es nachvollziehen oder verstehen zu können. Wie denn auch. So wie sich der Depressive nicht vorstellen kann, je aus der Depression wieder herauszukommen, so können sich die ohne Depression nicht vorstellen, wie sich das depressive Leben anfühlt. Wenn Sie einem Depressiven in voller Inbrust helfen zu wollen: „Reiß dich zusammen und komm wenigstens mit spazieren, auf die frische Luft!“, dann teilen Sie ihhm genau das mit, was ihn selbst beunruhigt. Er kann sich nicht mehr zusammenreißen. Bei dieser Feststellung fühlt er sich wertlos und unfähig. Ich kenne Betriebe, die sich gerade diese schmerzhafte Hilflosigkeit des depressiven Menschen zu nutze machen und den Hebel des gezielt geplanten Mobbings zu Personalreduktion ohne Sozialplan einsetzen. Mit dem „Reiß dich zusammen!“ wird der depressive Mensch zu einem faulen Menschen umdefiniert. Depressive sind da sehr empfänglich dafür, weil sie es in der Depression von sich selbst annehmen. Überzeugt sind, manchmal wahnhaft überzeugt, sie wären faul. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um eine Hausfrau, Facharbeiter oder Akademiker und Manager handelt. Es kann wirklich jeden treffen. Aber es geht vorbei. Depressionen haben im Vergleich zu vielen anderen psychischen Erkrankungen den Vorteil, dass sie vorbei gehen und dann ist der Betroffene so wie vor Ausbruch der Depression. Der Alte eben. Und das ist auch das Ziel der Behandlung und der dabei erforderlichen Geduld bei den Ärzten, Psychiatern, Psychologen und Angehörigen. Alle Miteinander brauchen Zeit, um die Zeitlosigkeit der Depression überwinden zu können. Das ist in unseren auf Effektivität, Spaß und Leistung gedrillte Gesellschft nicht so einfach. Und im Jahr 2020 werden wir die Depression unter den ersten vier TOP DIAGNOSEN der Weltstatisik der WHO sehen.
Zum Glück leben wir nicht mehr in Zeiten, in denen nichts anderes gemacht werden konnte, als nur die Hände in den Schoß zu legen. Es kann effektiv und individuell angepasst behandelt werden. Es stehen moderne Antidepressiva mit mehr Wirkung als Nebenwirkung zur Verfügung. Die psychotherapeutischen Interventionstechniken sind effektiver und sinnhaltiger geworden. Obwohl noch lange nicht in der Forschng verstanden, wissen wir heute doch einiges, wie die Depressionen in etwas zu verstehen sind. Und die Menschen trauen sich mehr über ihr seelisches Leben miteinander zu reden, schließen sich in Selbsthilfegruppen zusammen und es entstehen Netzwerke gegen Depression, deren Erfolge auch im Hinblick auf Suizidalität beachtlich sind.
Was das wesentliche dabei ist? Wie immer im menschlichen Zusammenleben ist es die Achtsamkeit, nicht an wahrgenommenen Problemen des anderen achtlos vorbeigehen. Manchmal reicht es nur eine Weile zu verweilen, bis eine Mitteilung des Depressiven leise über die Lippen kommt.
Ich weiß, dass es sich in unserer Gegenwart ziemlich verrückt anhört. Wir haben 8 Mio depressive Menschen, 4,5 Mio Arbeitslose, 1,5 Billionen Euro schwere Rettungspakete für Abwendung der Katastrophen aus den verzockten Geldern in der Finanzwelt, dazu eine 1,5 Mio starke Truppe von Demenzkranken und 24 Mio versprochenen Steuerentlastungen, weil sie im Wahlkampf unverantwortlich versprochen worden sind. Die Politik verhält sich depressiv und versucht sich an den eigenen Haaren aus der Krise hereuszuziehen. Das würde man schon maniform nennen – also den Gegenpol der Depression sehen. Es wächst nichts, nur weil in Plenarsaal hineinschreie „Wachstum“, immer wieder Wachstum. Beschwörungsformeln der Hilflosigkeit, die dem gleichen „Reiß dich zusammen!“.
Robert Enke hat die Kugel ins Rollen gebracht – wir dürfen jetzt öffentlich nach Verständnis suchen. Wir verlieren durch depressive Suizide ca . 9.000 Mitbürger, in etwa so viel, wie bei Autounfällen im Jahr ihr Leben lassen. Als Prämie auf Moderne Zeiten.