#notjustsad hat am 13.11.2014 die Twitter-Bühne betreten. Das Bedürfnis, seine depressive Welt anzusprechen, darüber wenigstens in 140 Zeichen eine Botschaft los zu schicken scheint ja für nicht wenige erst mal eine Möglichkeit, etwas über das Leiden zu sagen, ohne gleich mit Besserwissen konfrontiert zu werden. In den ersten Tagen war das Interesse bei den Betroffenen so groß, dass #notjustsad in den Top 10 rangiert ist.
Die Betroffenen twittern auf #notjustsad meistens in Metaphern formuliert ihre Erlebnisse, die bei depressiven Menschen vorkommen. Die Vorgabe von 140 Zeichen auf Twitter zwingt zu verdichteten Formulierungen. Beim Lesen ist man immer wieder über die poetische Kreativität der Verdichtungen erstaunt.
Mittlerweile hat sich die Besucherfrequenz auf ein Alltagsmaß eingependelt. Die Explosion auf #notjustsad hat auch in den Medien ein Echo gefunden. Es schien eine willkommene Gelegenheit gekommen zu sein, über Depressionen im größeren Umfang zu reden, zu schreiben und…
In den Medien tauchte natürlich sehr schnell die Frage auf, ob Twitter ein taugliches Mittel für eine Therapie wäre. Solche Absicht kann in den Formulierungen nicht abgelesen werden. Die Benutzer sind sich darüber klar in welcher Welt sie sich auf Twitter bewegen. Sie werden ihre Botschaften los und beobachten, wie sich die Reaktionen in den Äußerungen der anderen wiederspiegeln, weiter entwickeln, hier und da kann auch eine hilfreiche Information ausgetauscht werden.
Eine Therapie erwartet keiner von den Interessenten auf Twitter. Was aber neben der Beschreibung der eigenen Erlebnisse oft angesprochen wird, ist die ungenügende Versorgung für psychisch kranke Menschen. Auf der einen Seite sind es Probleme bei der Suche nach einem Therapieplatz, auf der anderen Seite: wenn ein Psychiater-Psychotherapeut gefunden wurde, sind die Betroffenen erschreckt über abwertendes und ignorantes Verhalten der Therapeuten. Oder über die Vorgehensweisen der Kranken- und Rentenversicherungen bei Genehmigung von Psychotherapien.
Die Medien sind voll über solche Unglücke, wie der Suizid des Fußballstars Enke und anderen. Eine kurze Zeit ist es wichtig und dann verschwindet die Problematik in der Versenkung. Wird gesellschaftlich verdrängt. Keiner scheint wissen zu wollen, dass es psychische Probleme gibt. Oder besser gesagt: die Achtsamkeit für Probleme im Zusammenleben wird nicht gelebt, garnicht entwickelt. Es muss immer erst etwas passieren, damit die Aufmerksamkeit wach wird. Sie schläft aber wieder schnell ein. Alles muss in erster Linie ungestört funktionieren.
Dabei fragt sich keiner, was eigentlich ungestört bedeutet. So wie die Menschen in Familien, auf dem Arbeitsplatz und in der Freizeit miteinander umgehen entsteht der Eindruck, dass eine übergroße Angst vorm Sand im Getriebe besteht. Die meisten meinen, wenn sie Probleme verdrängen, dann wird dieser Sand im Getriebe vermieden – dann sind auch die Betroffenen gezwungen zu verdrängen, so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre.
Aus dieser Dunstglocke des allgemeinen Verdrängens wollen die Besucher auf #notjustsad (Twitter) raus. Mancher könnte meinen, die Besucher würden dort nur ihren „Seelen-Müll“ abladen wollen. Stattdessen wollen die Besucher ein Erlebnis, eine Wahrnehmung, eine Beschwerde, eine wiederholt schlaflose Nacht beschreiben. Der Ablauf von Twitter erlaubt es, dass die Beschreibungen stehen bleiben können, ohne dass irgendjemand gleich eine „kluge“ Antwort als Reaktion drauf formulieren muss. So liest sich eine Twitter-Folge wie ein Katalog von gut formulierten Erlebnissen aus der Welt der Depressionen. Die sog. guten Ratschläge kommen auch kaum vor, weil sie in den Beschreibungen der Twitterer bereits als erlebtes Leid formuliert werden, also auch als depressives Symptom innerhalb des Zusammenlebens: „Reiß dich zusammen!“, „Geh an die frische Luft spazieren!“, „Es kann nicht so schlimm sein, es war schon schlimmer!“ usw. Diese Missachtung verbieten sich die Menschen mit Depression kompetent.
Sie machen darauf aufmerksam, dass wir an den Problemen nicht mehr vorbeigehen können. Die Statistiken zeigen, dass etwa 20% der Bevölkerung unter depressiven Störungen leidet. Die Äußerungen auf #notjustsad zeigen trotz der Beschränkung auf 140 Zeichen, wie vielgestaltig depressive Störungen sind. So werden Depressionen als Hauptkrankheit beschrieben, wie Borderline- und Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, BurnOut, Erschöpfungszustände, Suchterkrankungen, Folgen von körperlichen Erkrankungen usw. beschrieben, bei den allen depressive Zustände vorkommen. Es wird dabei deutlich, wie vielgestaltig depressives Erleben vorhanden ist.
Neben den 20% an depressiven Störungen müssen die 10% an Suchterkrankungen berücksichtigt werden. Wenn wir dann noch die Menge an chronischen Erkrankungen sehen, die bei den Ärzten für Allgemeinmedizin betreut werden, handelt es sich mindestens um die Hälfte der Gesellschaft. Oder anders: es ist eine alte Erfahrung, dass 30-50% der Patienten einer Hausarztpraxis bedeutsame oder ausschließlich psychische Probleme aufweisen.
Neben dem Leid der Betroffenen ist die gesellschaftliche Situation bedeutsam. Die Betroffenen von psychischen Krankheiten wollen die Auswirkungen ihrer Beschwerden nicht zeigen, verstecken sie und tun so, als ob es ihnen gut ginge. Bis zur Erschöpfung. Die anderen in der Gesellschaft, die Arbeitgeber, Familien, Freunde, Jedermann tun so, als ob es keine psychischen Störungen gäbe, weil es allgemein als Schwäche angesehen wird, eine psychische Störung zu haben, nicht zu funktionieren, mit Problemen zeigen, dass es Probleme gibt.
An der psychischen Störung ist die Hilflosigkeit für bestimmte Alltags- oder Lebensbereiche jeweils das Problem, dass es nicht geben darf. Hilflosigkeit hat schon immer Angst gemacht, Hilflosigkeit auf Grund von psychischen Störungen macht so viel Angst, dass psychische Störungen immer noch tabuisiert oder verdrängt und überspielt werden.
Unter der Zunahme vom Leistungs-, Konsum- und Druck der Spaßgesellschaft wird heute versucht, neben Verdrängung und Tabuisierung psychische Störungen umzudefinieren. Mittlerweile finden wir z.B. eine plumpe Sexualisierung in der Werbung, die sich Formulierungen aus der Erotik bedient – in dem diese Formulierungen auf Gegenstände angewandt werden, die mit Sex nichts zu tun haben, wird Sex für eine Bohrmaschine oder Motorsäge ausgetauscht.
Es findet eine fortgeschrittene Entfremdung, die für psychische Probleme einen breiten Nährboden bereitet. Die Umdeutungen werden auf einfache Formeln reduziert und geben durch ihre Plumpheit keine Angriffsfläche her. Der Betrachter kann sich nur abwenden und Welt bleibt leer. Emotionen sind nicht mehr eigen, sondern allgemeine Meinung.
Das alles passiert zu einem Zeitpunkt, an dem wir wie Kaninchen auf die Schlange auf die demographische Entwicklung starren. In Angst, dass wir unser Alter nicht werden bezahlen können. Die Arbeitskraft- und Rentenproblematik wird in Talkshows vorgekaut, es kommt aber nichts anderes dabei raus, als nur Vermehrung vom negativen Stress. Die jungen Leute fragen sich, wie werden wir im Alter versorgt und zwischen den Generationen werden bereits in Fernsehgesprächen Auseinandersetzungen inszeniert.
Niemand macht sich Gedanken darüber, welche Auswirkungen psychische Störungen auf die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft haben werden. Bereits heute werden Statistiken über Kosten aufgestellt, die psychische Störungen in einer Gesellschaft verursachen. So machen die Kosten, die alleine in den USA die Depressionen verursachen etwa 100 Milliarden USD pro Jahr. Diese Kosten beinhalten auch den durch Depressionen bedingten Arbeitsausfall. Nach den Untersuchungen der deutschen Krankenkassen nehmen die Ausfälle durch psychische Erkrankungen zu. Das Burnout-Syndrom wurde als eine akzeptable Störung in der Arbeitswelt kreiert. Eine Einstiegspforte, die es erlaubt, über psychische Probleme offener zu reden – wenn sie als Burnout definiert werden, sind sie heute Salonfähig.
Sicher ein Anfang. Die Menschen fühlen, dass es mit der Verdrängung, Umdeutungen, Tabuisierungen und nicht sehen wollen absehbar nicht gut gehen wird. Die Auswirkungen von psychischen Krankheiten werden die Auswirkungen der demographischen Entwicklung verschärfen. Die Krankheitstage werden die ohnehin verminderte Anzahl der arbeitsfähigen Bevölkerung vermindern. Der gesellschaftliche Stress nimmt somit weiter zu und führt seinerseits wieder zu Erkrankungen – sie vermehren sich weiter.
Unter diesen Aspekten ist es verwunderlich, dass die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens von Reform zu Reform weiter reduziert wird. Diese Schwächung trifft nun auch die Psychiatrie-Psychotherapie, wenn durch Pauschalierungen Reduktion vom Personal betrieben wird. Eine Gesellschaft, die ihre Zukunft nicht sehen will und nur für die Gegenwart von 3-5 Jahren plant, wird verarmen. Die Umschichtung der Ressourcen wird zu Verelendung führen.
Depressive Menschen haben für solche Situationen ein Gespür, weil sie es in ihrer Erkrankung an eigenem Leib und Seele erleben. Und sie kennen aus eigener Erfahrung die Auswirkungen der Selbstausbeutung. Sie merken, dass sich der allgemeine Stress vermehrt und immer weniger Zeit und Raum für ein nachhaltiges Gespräch zu Verfügung steht. Sie, die ohnehin ein Problem damit haben, andere mit ihren Beschwerden zu belasten und sich deshalb hinter Masken verstecken merken, dass wenn sie es weiter so machen, es immer weniger Raum und Zeit in der Gesellschaft für Problembewältigung geben wird.
So können wir uns dem Phänomen nähern, wie es vor einigen Tagen zu Geburt des #notjustsad gekommen ist. In dieser aufgeladenen Stresssituation sind die verdichteten Formulierungen auf Twitter Rufe nach Besinnung, mach was bevor es zu spät sein wird. Aus der Erfahrung: wir kennen es, wenn es zu spät sein könnte. Auf Twitter findet keine Therapie statt, aber es wird nach erforderlichen verbindlichen Therapien gerufen.
Links zu den Medien:
Auf mentalnet wurde ein Forum eigerichtet.
http://www.mentalnet.de/forum/forum.php
Shoutout: Videospiele und Depressionen
http://blogs.faz.net/deus/2014/11/14/das-internet-als-die-groesste-selbsthilfegruppe-der-welt-2229/
http://erledigungsblockaden.wordpress.com/2014/11/14/darf-ich-vorstellen-ich-bin-notjustsad/
http://www.heute.de/twitter-trend-notjustsad-zum-thema-depression-35863432.html
http://depression-art.com/was-kommt-nach-notjustsad/
http://diepresse.com/home/leben/gesundheit/4596166/Graufilm_Der-Alltag-mit-einer-Depression
https://www.youtube.com/watch?v=XiCrniLQGYc
http://www.i-say-shotgun.com/stellungnahme-notjustsad/
http://katikuerschmeckert.wordpress.com/2014/11/14/notjustsadbutalsopissedoff/
http://polarstern.co/2014/11/noch-auf-der-suche/
http://swrinfo.tumblr.com/post/102441532097/eine-expertin-lobt-den-twitter-trend
http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2014-11/depression-twitter-notjustsad